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# 100

WALTER KRATNER // „LAMPEDUSA“ (2015/2023)

Holz (grau, lackiert), Bauholz (geölt), luftgetrockneter Kadaver einer Ratte, Glastafeln, Handgriffe, Beschläge, Drehräder, Filzteppich (ca. 700 x 300 cm)

Für: >>Part of the Game 2023 | Kunsthalle Graz | 11. April 2023

Die raumgreifende Objektinstallation „Lampedusa“ von Walter Kratner, die das konstruktive Skelett eines gesunkenen Bootes nachstellt, wird zum Symbol für Scheitern und Verzweiflung. „Flüchtlinge“ nennen wir seit Jahrzehnten diejenigen, die vor den Toren Europas dazu verdammt sind, nicht anzukommen.

Sowohl in der Literatur als auch in der Kunst spiegeln Motive des Schiffbruchs das Scheitern der Hoffnung auf eine menschlichere Zukunft, − auf dem „Floß der Medusa“ des französischen Malers Théodore Géricault überleben nur die Stärksten. Alle anderen werden Opfer von Kannibalismus. Es sind Menetekel der Moderne. Im „Eismeer“ von Caspar David Friedrich wird ein Schiffswrack zum Symbol für die Kälte und Isolation, in die sich die Menschheit hinein manövriert hat. Das Bild trägt den Untertitel „Die gescheiterte Hoffnung“ − kein Land in Sicht. Nur das Nichts. Der Mensch, allein gelassen von Gott und ohne Aussicht auf Erlösung: Die alten Legenden symbolisieren das Schicksal des modernen Menschen.

In seiner Objektinstallation „Lampedusa“ hebt der Künstler den luftgetrockneten Tierkadaver einer Ratte als Installations-Fragment gesondert hervor. Das bleiche tote Tier liegt in einer Aussparung aus geordneten Lamellen, wie eingebettet, in einem gläsernen Sarg. Sinnbild für Tausende Ertrunkene. 

„Zugleich liegt die Ratte unter der Glasabdeckung wie ein Museumsobjekt, Distanz entsteht, das Ekelgefühl wird abgemildert und aufgefangen. Es wandelt sich in Ehrfurcht vor dem Tod.“ (Zit.: Susanne Ramm-Weber, Kunsthistorikerin, Offenburg)

ZUR ERÖFFNUNG // 11.04.2023 // Kunsthalle Graz

Masoud Razavy Pour // „Lampedusa“ // Kurzfilm

Der iranische Videokünstler Masoud Razavy Pour dokumentierte 2015 die Objektinstallation „Lampedusa“ von Walter Kratner im Sakralraum der Basilika am Weizberg. Der Videofilm geht freilich über die Dimension eines reinen Dokumentarfilms hinaus. Masoud Razavy Pour verwendet in verschiedenen Sequenzen Filmmaterial, das neu gedreht wurde, um die entsetzliche Situation der Flüchtlinge in künstlerischer Form beschreiben zu können. Eigens für „Lampedusa“ geschriebene Texte von Kuratoren, Künstlern und Kunsthistorikern aus Italien, der USA, Deutschland, aus dem Iran und Österreich collagierte Razavy Pour zu einem eindringlichen, visuellen Opus.

>> ALLE TEXTE: Susanne Ramm-Weber (Offenburg), Javid Ramezani (Teheran), Stefania Severi (Rom), Walter Kratner (Graz), Masoud Razavy Pour (Graz), Shmulik Krampf (San Francisco), Barbara Jenner (Berlin), Fery Berger (Weiz), Gregory Edwards (San Francisco).

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BEITRÄGE ZUM THEMA:

>> LYDIA MISCHKULNIG_90 Sekunden_LITERATUR

>> WALTER KRATNER | „Tod im Wasser“ | Graz | BLOG #97

>> WALTER KRATNER | „Lampedusa 2/Fragment“ | BLOG #43

Die Verwendung der Ekelmetapher „Ratte“ im Zusammenhang mit der Flüchtlingsproblematik in einer österreichischen Regionalzeitung („Süd-Ost Journal“ vom 27.12.2018), bewog den Künstler zu dieser Ausstellungspräsentation von „Lampedusa“ in fragmentarischer Form.

>> KUNSTHALLE GRAZ | „Part of the game 2023“

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# 99

“GROWTH“ (2023)

Eine Ausstellung mit Marjan Habibian, Marlene Gollner, Elisabeth Gschiel, Walter Kratner

ZU SEHEN AB 14. FEBRUAR 2023 IN DER „STAL GALLERY“, MOSCAT, OMAN

DEUTSCH: Vier in Österreich lebende Künstler_innen, zeigen ihre Arbeiten unter dem Titel „Growth“ im arabischen Raum. Die Ausstellung zeigt verschiedene künstlerische Herangehensweisen an das Thema, die es dem Betrachter ermöglichen, die Entwicklung bestimmter Formen und Inhalte nachzuvollziehen. Aus den einzelnen Werken und Werkgruppen ist erkennbar, dass die Künstler_innen „Wachstum / Growth“ hier vor allem als einen ästhetischen Transformationsprozess  verstehen. 

Je nach verwendetem Medium setzen sich die Künstler_innen mit den Möglichkeiten unterschiedlicher Kunstformen auseinander. Dazu gehören  Worte, Fotos, Raum, Materialien, Linien, Formen, Farben oder hybride Mischungen daraus.

Zu sehen sind in diesem Kontext von >>Marjan Habibian (Kuratorin) fast klassische Zeichnungen, die mit malerischen Elementen durchsetzt sind und auch Einflüsse persischer Ornamentik beinhalten. Das Medium Zeichnung ist auch Basis für >>Elisabeth Gschiel, die ihre Motive nicht mit einem Stift zeichnet, sondern mit einer Nähmaschine als Fäden auf Papier näht und zu einer feministischen Betrachtung eines Handwerks einlädt, das traditionell Frauen zugesprochen wird. Die Skulpturen, Gefäße oder Körpervolumen von >>Marlene Gollner lassen eine Resonanz und Wechselwirkung zwischen dem Sichtbaren und dem Verborgenen erfahrbar werden. >>Walter Kratners Fotografien von erkennungsdienstlichen Polizeifotos werden durch gestische Überarbeitung eindringlich auf eine beklemmende gesellschaftspolitische Ebene gehoben.

Im Ausstellungskontext „Growth“ ist den Künstler_innen das Bestreben gemeinsam, die tradierten Mediengrenzen aufzuweichen und zur Diskussion zu stellen.

ENGLISH: Four Austria-based artist presenting their art depending on the medium used, dealing with the possibilities of different art forms. This includes words, photos, space, materials, lines, shapes, colors or hybrid mixtures of these. From the individual works and groups of works in this exhibition can be seen that the artists understand „growth“ here primarily as an aesthetic transformation process.

>>Elisabeth Gschiel does not draw her motifs with a pen, but sews them as threads on paper with a sewing machine and invites you to take a feminist look at a craft that is traditionally attributed to women.  

The sculptures, vessels or body volumes by >>Marlene Gollner allow a resonance and interaction between the visible and the hidden to be experienced. Wild silk fibers are the material of these body shells, obtained from the cocoons of silkworms in the metamorphosis between chrysalis and butterfly.

>>Walter Kratner’s photographs of Police identification  photos are urgently raised to an oppressive socio-political level through gestural revision.

In this context, one can see expressive drawings by >>Marjan Habibian (curator), which are interspersed with painterly elements and also contain influences from Persian ornamentation.

In the context of the exhibition “Growth”, the artists all strive to soften traditional media boundaries and open them up for discussion.

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SIEHE AUCH:

WALTER KRATNER | „The Flaw / Der Makel“ / Belgrad | BLOG #66

WALTER KRATNER | „Broken Book 3″| BLOG #35

STAL GALLERY, MUSCAT, OMAN |  >> OMAN OBSERVER  | >> MUSCAT DAILY

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Eine Ausstellung durch Unterstützung der Botschaft Österreichs in Oman

An exhibition supported by the Embassy of Austria in Oman

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Kunst

# 98

WALTER KRATNER // „Balance 2“, 2022

Tierfigur (Zebra), Kalkstein, 2 Holzstühle (gebraucht), Holzkonstruktion (grau lackiert), Räder, Filz (schwarz), Handgriffe; Dim.: ca. 150 x 150 x 200 cm

Die zweite Objektinstallation für den Kulturstock 3 weist Bezüge zum Metamorphosen-Thema auf und gibt eine gesellschaftliche Perspektive vor: So scheint die Dekomposition von Holzstühlen besonders von der Vorläufigkeit jedes harmonischen Zustands inspiriert, den alle labile Gleichgewichte in sich tragen. 

Ein Stein drückt die Stuhl-Skelette zu Boden, währenddessen ein zweiter die prekäre Balance aufrecht erhält. Durch verkeilte Holzleisten und wenige Flügelkopf-Schrauben wird ein Gleichgewicht auf dem Rücken einer Spielzeug-Figurine aufrecht erhalten, das jeden Moment zerfallen könnte.

„(…) Nicht nur in dieser Installation werden die verwendeten Alltagsfragmente zum Menetekel der Katastrophenanfälligkeit der Gegenwart.“  Zit.: Erwin Fiala (Mag. Dr. Phil., Medienwissenschaftler)

ZU SEHEN AB 10. SEPTEMBER 2022 IM KULTURSTOCK K3 (bei Graz)

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SIEHE AUCH:  Kulturstock 3 | „Tod im Wasser“

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>> WALTER KRATNER >> BLOG 97 („Tod im Wasser“) | >> BLOG 85 („Dämmerung“) | >> BLOG 83 („3 Roses“) | >> BLOG 81 („Clean Hands“) | >> BLOG 79 („Woyzeck. Der Richterspruch“) | >> BLOG 66 (The Trap) | >> BLOG 45 (Hunger is the best source“ | >> BLOG 43 („Lampedusa 2 / Fragment“) | >> BLOG 39 („Celan“) | >> BLOG 35 („Broken Book 3“) | >> BLOG 34 (Werkbuch 6) | >> BLOG 30 („Nach der Jagd“) | >> BLOG 22 („Bagdad, 12. Juli, 2007“) | >> BLOG 12 („Werkbuch 5) | >> BLOG 3 („Der Makel“) | >> BLOG 2 („Ceija Stojka, Porajmos“)

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# 97

WALTER KRATNER // „Tod im Wasser“, 2020/2022

Tierfigur (Zebra), destilliertes Wasser (ca. 5 Liter), Waschschüssel (Blech, weiß, gebraucht), Stein, 2 Schraubenzwingen, Holzkonstruktion (weiß lackiert), Filz (schwarz), Handgriffe; Dim.: ca. 130 x 170 x 110 cm

In Zeiten von Pandemie und Krieg erweckt ein fast steter Aufenthalt in virtuellen Räumen den Anschein, dass Entferntes in gefühlte Nähe rückt.“

Während sich Europa in einer schweren Krise befindet, spielen sich jedoch vor den Toren des Kontinents auf dem Mittelmeer Dramen ab, die kaum noch jemand zur Kenntnis nimmt. Die Krise scheint ein Vorwand zu sein, um Flüchtlinge, die in Seenot geraten, nicht mehr retten zu müssen.

Fast spielerisch rückt die Objektinstallation „Tod im Wasser“ eine ertrinkende Tierfigur − ein afrikanisches Zebra − in den Fokus.

Literatur:

Ovid, Buch I: Metamorphosen 253-312 (Deutsche Übersetzung) – Die Sintflut

(…) Ein Wolf schwimmt zwischen Schafen, die Welle trägt gelbe Löwen,
(305) sie trägt auch Tiger mit sich, und nichts nützen dem Eber seine Blitzeskräfte,
und nichts dem weggetragenen Hirsch seine schnellen Beine,
und nachdem er lange Erde gesucht hatte, wo er anhalten könnte,
fällt der irrende Vogel mit ermatteten Flügeln ins Meer.
Die ungeheure Zügellosigkeit des Wassers hatte Hügel bedeckt,
(310) und es schlugen neue Fluten auf die Berggipfel.
Der größte Teil wird von der Welle weggerissen, und jene, die die Welle verschont hat, vernichtet langes Hungern durch fehlende Nahrung.

Anmerkung zur Arbeit:

„(…) Walter Kratner stellt (…) eine Metamorphose, eine Transformation dar. Sie wissen, das kommt öfters in der Literatur vor, – bekanntlich ursprünglich bei Ovid. Sein Konzept geht wiederum auf Heraklit und noch weiter zurück. Eine dieser Metamorphosen, die sie sicherlich kennen, ist die der Sintflut.

(…) Irgendwann ist der Mensch in seiner eigenen Wandlungsfähigkeit offensichtlich beschränkt. Er meint, um die Außenwelt kennen zu lernen, müsse man sich selbst kennen, um dann die Gesellschaft zu ändern. Diese Vorstellung funktioniert aber nicht und so gibt es in den meisten Kulturen eine Sintflut. Durch sie soll ein neues Leben, – ein anderes Leben entstehen. Walter Kratner nimmt mehr oder weniger eine der Metamorphosen von Ovid auf und zeigt in seiner Installation ein Zebra. Der Künstler geht dabei auf den Originaltext zurück und macht darauf aufmerksam, dass wir so von Neuigkeiten, Bildern und Nachrichten umgeben sind, dass wir viele Dinge außer Acht lassen. Dazu gehört auch die Außerachtlassung, dass tagtäglich Hunderte Menschen  im Mittelmeer ertrinken und vielleicht sogar an unser wunderbares Urlaubsgebiet angeschwemmt werden. Somit stellt der Künstler die Frage nach der Wandelbarkeit, nach der Wandelfähigkeit des Menschen, in den Raum.  (…) Zit.: Roman Grabner (Joanneum, Graz)

ZU SEHEN AB 2. JULI 2022 IM KULTURSTOCK K3 (bei Graz)

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SIEHE AUCH:  Kulturstock 3 | „Tod im Wasser“

SIEHE AUCH:

WALTER KRATNER // „La patria morta“ // Galleria Web Art, Treviso

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#96

JACOBO PONTORMO (1494 – 1557) // „Il Giocatore sgambettante“ / „The Kicking Player“ (Fussballer), um 1530

Detailstudie für Fresken in der Villa di Poggio a Caiano (nicht ausgeführt) // Schwarze Kreide auf Papier, 263 x 403 mm, Galleria degli Uffizi

Ein Charakteristikum Pontormos vorbereitender Aktzeichnungen für die Fresken im Saal der Villa von Poggio a Caiano ist eine starke Verdrehung des Körpers, die zur Steigerung der Expressivität eingesetzt wird. Die von den Medici in Auftrag gegebenen Fresken wurden allerdings nie ausgeführt.

Laut Vasari wurde Pontormo eine Lünette für eine Episode aus Ovids Metamorphosen in Auftrag gegeben, ebenso die Darstellung einer Gruppe von Nackten, die Florentiner Fußball spielen. Dieses Motiv bezieht sich auf ein Spiel am 17. Februar 1530 auf der Piazza Santa Croce, das unter feindlichem Beschuss während der Belagerung der republikanischen Stadt Florenz durch die kaiserlichen Armeen Karl V stattfand.

Zur historischen Bedeutung dieses Spiels für das Selbstverständnis der Stadt Florenz, muss man sich das Jahr 1527 in Erinnerung rufen: Erneut haben die Florentiner die Medici vertrieben und eine Republik ausgerufen. Dafür werden sie von den kaiserlichen Truppen Karl V belagert, die eben Rom in einer Gewaltorgie geplündert haben, nun aber mit dem Medici-Papst Klemens VII, im Bunde sind, der die Rückkehr der Medici erkämpfen will. Michelangelo entwirft Verteidigungs-Bollwerke und Andrea del Sarto skizziert Propaganda-Freskos für das republikanische Florenz.

In der ausweglosen Situation der Belagerung entscheiden sich die Bürger von Florenz am Karnevalstag 1530 ein Fußballspiel (calcio fiorentino) in der Piazza Santa Croce auszutragen, um die übermächtige kaiserliche Armee zu verspotten und ein Zeichen für die Unbeugsamkeit der Republik zu setzen. In grünen (Hoffnung) und weißen (Freiheit) Hemden wird gespielt. Die Kaiserlichen reagieren, indem sie mit einer Kanone auf die Basilika schießen. Die Kanonenkugel verfehlt allerdings weit ihr Ziel. Florenz verhöhnt den Aggressor. Der Ausgang des Spieles bleibt unbekannt.

Am 12. August 1530 kapituliert Florenz gegen die kaiserliche Übermacht. Die Stadt zählte ungefähr Hunderttausend Einwohner. Während der zehn Monate Belagerung sterben 44 000 Menschen durch Kriegshandlungen und Pest. Die Familie der Medici kehrt zurück, beendet per Dekret die Florentiner Republik und wird über zwei Jahrhunderte ununterbrochen die Stadt regieren.

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#95

JACOBO PONTORMO // Detailstudie zur Überführung Christi („Deposizione / Kreuzabnahme“) für die Capponi-Kapelle in Santa Felicità, Florenz, um 1526. Die Abbildung zeigt einen der ersten Entwürfe für Christus

Rötel, 35,3 x  28 cm (Galleria degli Uffizi)

Das Altarbild ist für die Grabkapelle in in Santa Felicità bestimmt. Es befasst sich daher mit den schmerzlichen Themen des Todes und der Trennung. Pontormo schien zuerst an das Motiv der Beweinung zu Füßen des Kreuzes gedacht zu haben. Das Motiv blieb. Allerdings versetzte er die Szene ans Grab: Die Mutter hebt den Arm zum Lebewohl, nachdem ihr die Last des geliebten Sohnes von den Knien geglitten war.

Es handelt sich also nicht um eine Bestattung, sondern um die Überführung vom Grab in den Himmel. Dabei ist der weitgehende Verzicht auf eine Darstellung von Raum ein vorausweisendes Zeichen, das sich schon als erste Andeutung auf die zwischenmenschliche Entfremdung  in der Moderne deuten lässt. Aus dieser Wahrnehmung schöpft Pointormo seine gewagte Künstler-Vision. Daraus entstand ein Meisterwerk, eine hellblau und rosa, gleichsam im freien Raum schwebende „Kreuzabnahme“.

Erst der Schulmeister Vasari krittelte Jahrzehnte später, man könne „kaum das Licht vom Halbschatten“ unterscheiden. Nur „Mitleid“ empfand er mit der „Einfalt dieses Mannes“, wenn Pontormo seine Kompositionen gelegentlich an Dürer-Drucken orientierte.

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#94

JACOBO PONTORMO // Detailstudie zur Überführung Christi („Deposizione / Kreuzabnahme“) für die Capponi-Kapelle in Santa Felicità, Florenz, um 1526

Rötel, 16,5 x 14,6 cm (Galleria degli Uffizi)

Einer der ersten Entwürfe für Maria und die weinenden Frauen für das Altarbild „Überführung Christi“. Auch hier gehen, wie häufig bei Pontormo, einige weibliche Figuren von einem männlichen Modell aus. (Zit.: Salvatore Nigro)

Schon in den Studien sind Mitgefühl, Trauer und Verzweiflung an den Gestalten abzulesen. Maria scheint in eine beginnende Ohnmacht zu gleiten; ihr Gesicht lässt einen resignativen Gram erkennen, der sich nicht gegen das Schicksal ihres Sohnes auflehnt.

Die Vollendung der Bildtafel (313×192 cm, Öl auf Holz) fiel in die Zeit der zweiten Florentiner Republik, als die Familie Capponi politisch eine prominente Rolle spielte. Das lange Zeit umstrittene Thema des Bildes, das Elemente der Grablegung und der Grabtragung enthält, ist entsprechend dem Patrozinium der Kapelle eher als Pietà zu deuten.

Unverwechselbar ist Pontormos außergewöhnliche Farbgebung in seinen Werken. Besonders sein Altarbild „Überführung Christi“ gilt als Paradebeispiel für seine exzellente Farbgebung, die eine transparente Wirkung verbreitet. Neben seinem kantigen Zeichenstil, in dem seine menschlichen Körper entstanden, kleidete Pontormo sie oft in faltenlose Gewänder, die eine versteinernde Wirkung hervorrufen. Die ungewöhnliche Farbigkeit vermittelt eine unstoffliche Wirkung und verweist auf eine geistig, fast berauschte Ausdrucksfülle seiner Werke.

Anmerkung: Salvatore Nigros Bezeichnung „Überführung Christi“ statt, wie bislang gebräuchlich, „Kreuzabnahne / Deposizione“ für das große Altarbild in der Capponi-Kapelle geht u.a. auf auf John Shearmans differenzierte Interpretation des Themas zurück.

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#93

JACOBO PONTORMO (1494 – 1557) // Zeichnung aus den Studien zu den Josephsgeschichten der Camera Borgherini in Florenz (1515 – 1518)

Abbildung: Studie zur Gemahlin des Pharao,

Schwarzer Stift und Bleiweiß auf bräunlichem, grundiertem Papier, 40,5 x 29,5 cm (Galleria degli Uffizi)

„Ausdruckstarke Studie eingeschlossener Angst an einer alten Frau … , in der Zeichnung der Linien, die sich in Helligkeit brechen, steckt eine schon beinahe chromatische Intensität.“ (Zit.: L. Becherucci)

Im Auftrag des Bankiers Francesco Borgherinis stattet Pontormo um 1518 gemeinsam mit anderen Fiorentiner Künstlern das Hochzeitszimmer für Borgherinis Sohn aus. Pontormos Beitrag umfasste drei „Cassone“ (Truhenbilder) und Gemälde mit Szenen aus dem Leben Josephs (alle vier Bilder in der National Gallery London).

Florenz ist zwar Geburtsort der Renaissance, aber um 1500 nicht mehr unumstrittene Kunst-Hauptstadt. In einem außergewöhnlichen Klima intellektueller Freiheit treffen in Florenz noch einmal die maßgeblichen Künstler und Kunstauffassungen von Leonardo bis Michelangelo zusammen und zwischen 1494 und 1530 entfaltet sich ein großes, faszinierendes Panorama Florentinischer Kunst. Es spricht für die Aufgeschlossenheit Florentiner Auftraggeber, dass sie auch derart gewagte Künstler-Visionen akzeptierten wie Pontormos Meisterwerke.

Mit 18 Jahren war Pontormo in die Werkstatt von Andrea del Sarto eingetreten. Spätestens seit 1515 gibt es dort einen deutlichen Einstrom deutscher und niederländischer Graphik (Dürer, Lukas van Leyden), in der sich ein „unruhiger“ Bildaufbau andeutet. In diesem Zeitraum ist auch ablesbar wie Michelangelo, Punkt für Punkt, die Proportionen forciert, wie er aus der klassischen Welt der Hochrenaissance in die „antiklassische“ Welt des Manierismus eintritt.

Pontormos Gemälde von Joseph mit Jacob in Ägypten (um 1518), aus der Bilder-Reihe für Pier Francesco Borgherini, legt nahe, dass der revolutionäre neue Stil Pontormos bereits mit diesem frühen Bild begann.

So gilt das Gemälde „Jacob in Ägypten“ auch als ein Meisterwerk des Manierismus. Pontormo bricht mit allen damals gültigen Normen und Konventionen der Malerei. Er verwandelte das traditionelle Prinzip der sukzessiven und mehrteiligen Erzählung, das als Charakteristikum der Florentiner Frührenaissance gelten kann, in ein effektvolles Spektakel. In seiner Darstellung des „Joseph in Ägypten“ werden die in grellen Farben gehaltenen Figuren einer extremen Skalierung unterworfen, Mit einer phantasievollen Mischung unterschiedlicher Elemente distanziert sich Pontormo deutlich vom monumentalen und erhabenen Stil der Hochrenaissance, der gleichzeitig in Rom seinen Höhepunkt erreichte. Diese Divergenzen in der stilistischen Orientierung in Florenz und Rom mögen sich z. T. daraus erklären, dass für Kunstwerke im privaten, bürgerlichen Milieu andere Kriterien galten. Gleichwohl manifestiert sich in der Ausstattung des Borgherini-Zimmers mit kleinformatigen und kleinteiligen Historienbildern eine neue künstlerische Sprache.

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#92

JACOBO PONTORMO (1494 – 1557) // Zeichnung

Studie zur „Heimsuchung“ / „La visitazione“ (1528-30)

Schwarzer Stift, Bleiweiß und Aquarellspuren (Quadrierung in Rötel), 32,7 x 24 cm (Gallerie degli Uffizi)

Es handelt sich um eine bereits weit fortgeschrittene Kompositionsstudie zur „Heimsuchung“ für die Villa Pandori. Das ausgeführte Gemälde befindet sich heute über den Seitenaltar der Pfarrkirche San Michele Arcangelo in Carmignano (Provinz Florenz). Deutlich spürbar der Einfluss Dürers. Die voluminösen, bauschigen Gestalten sind übergroß in einem gleichsam leergefegten städtischen Raum gestellt. (Zit.: Salvatore S. Nigro)

Die „Heimsuchung“ zeigt das Aufeinandertreffen der schwangeren Maria und ihrer ebenfalls schwangeren Schwägerin Elisabeth. Beide berühren einander sacht, auf Rippenhöhe und an der Schulter. Es ist, als wollten die beiden zu einem Reigen ansetzen. Denn so ernst sie sich in die Augen schauen, so gelöst sind ihre Bewegungen – Elisabeth scheint mit ihrem linken Fuß geradezu zu tänzeln. Diese Leichtigkeit überrascht auch deshalb, weil Marias Cousine die 50 überschritten haben dürfte: Pontormo kontrastiert sehr bewusst die junge, idealschöne mit der älteren, realistisch gesehenen Frau.

Pontormo hat Maria und Elisabeth in Seiten-, die zwei Begleiterinnen hinter ihnen in Vorderansicht wiedergegeben. Diese beiden Frauenfiguren sind rätselhaft, denn sie werden in der biblischen Erzählung nicht erwähnt und kommen auch sonst in der Ikonografie dieser Szene aus dem Lukas Evangelium nicht vor. Möglicherweise handelt es sich um eine kunstvolle Verdopplung der Hauptpersonen, um eine Simultandarstellung derselben Figuren in einem Bild.

Pontormo ließ sich in den Jahren nach 1520 zunehmend von der Grafik Albrecht Dürers beeinflussen. So geht die Anregung zur Gruppierung der vier Frauengestalten vielleicht auf Dürers Radierung „Vier nackte Frauen“ zurück, die ebenfalls von unterschiedlichen Seiten zu sehen sind. Sowohl Dürers als auch Pontormos Darstellungen varriieren das antike Thema der „Drei Grazien“, mit dem Pontormo sich zuvor in den Zeichnungen beschäftigt hatte.

Pontromo zeigt Maria und Elisabeth, beide schwanger, in sich selbst beobachtender Umarmung. Die Zugangsweise Pontormos regten auch Künstler wie Pier Paolo Pasolini zu seinem Film „La Ricotta“ von 1963 oder Bill Viola zur Videoarbeit „The Greeting“ von 1995 an.

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#91

JACOBO PONTORMO (1494 – 1557) // Zeichnung

Entwurf zum Hl. Hieronymus, 1527/28

Rötel und schwarzer Stift (Quadrierung in Rötel), 26,6×19,9 cm (Gallerie degli Uffizi)

Reuevolle und schmerzhafte Selbstbefragung: Die Embleme von Pontormos Unruhe. Das ausgeführte Gemälde zeigt die Figur in derselben Haltung, nur noch stärker gebeugt.  (Zit.: Salvatore S. Nigro)

Selten ist der toskanische Manierismus mit seinen verdrehten Körperdarstellungen, überdimensionierten Körperteilen, seinen Regelverstößen und seinem Anti-Akademismus so prägnant dargestellt, wie durch die geschraubte Körperdrehung („la figura serpentata“) des Hieronymus.

Auf den modernen Betrachter wirken die Bilder des „Manierisnus“ eher zahm,  – zur Entstehungszeit im 16. Jahrhundert  waren die Maler um Pontormo und Bronzino „die jungen Wilden von Florenz“. Durch das Gewand der Mutter Gottes blitzt eine Brustwarze, das Jesuskind ist fast eine Karikatur, der heilige Hieronymus, sonst alt und bärtig, ist jung, kahl, athletisch und windet sich grotesk verdreht aus dem Bild.

Dass die Werke in einer Zeit heftigster Umbrüche entstanden sind, bleibt oft hinter der Hochglanzfassade der Kunstfertigkeit verborgen. Was die Auftraggeber angeht, waren die Maler auch nicht wählerisch: Als die Republik den Bach runterging und die Medici ihren Platz wieder einnahmen, porträtierten sie erst die einen und dann die anderen Herrscher. Von den „republikanischen Sympathien“ die Pontormo nachgesagt werden, ist (leider) nichts ausdrücklich überliefert.

Das Tafelbild „Der Heilige Hieronymus als Büßer“ entstand um 1528/29. Die spiralförmige Verdrehung des Körpers spielt eine wesentliche Rolle, der Heilige wirkt zugleich massig und schwebend. Die Darstellung entspricht nur bedingt der üblichen Ikonographie; so wird Hieronymus keineswegs als alter Mann gezeigt, der Löwe, dem er dem Mythos zufolge einen Dorn aus der Tatze gezogen hat, taucht nur am Rande auf. Dass das Gemälde unvollendet geblieben ist, erhöht seinen Reiz vielleicht sogar, da es durchaus interessant ist, sich selbst die vom Künstler geplanten Ebenen der Raumtiefe zusammenreimen zu müssen.

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